Zum allerletzten Male genoss sie das letzte Licht des Tages. Die Sonne ging in wunderschönstem Rot unter und die Farbenpracht am Himmel war fantastisch. Doch das war kein Zufall.

Dieser perfekte Sonnenuntergang und alles, was jetzt noch folgen würde war sorgfältig geplant. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zündete eine Zigarette an. Ihr blieben noch zwei Schachteln und das war auch gut so, denn die würde sie sicher noch brauchen. Hier oben saß sie nun, auf dem Dach des 23stöckigen Hochhauses in Hamburg, und blickte auf die Lichter der Großstadt herab. Die ersten Sterne zeigten sich am Himmel und sie legte sich die mitgebrachte Decke um die Schultern, da es schon leicht kühl wurde.

Nach einem kurzen Blick auf die aufgeschriebene Musikliste legte sie die erste CD in den tragbaren CD-Player und machte die Musik an. Als die ersten Töne von Rory Gallagher’s „I’m not awake yet“  aus den Lautsprechern kamen, lächelte sie zufrieden und nahm einen großen Schluck Wein aus der Flasche.
Ja, sie hatte wirklich für alles gesorgt. Ruhig zündete sie sich die nächste Zigarette an und legte sich auf den Rücken, um den Sternenhimmel zu betrachten.

Ein Sternenhimmel war einfach etwas Gigantisches. Man könnte Jahre damit verbringen, darüber nachzudenken, wie das alles zustande kommen konnte und doch käme man nie zu einem Schluss. Wo fing das Universum an und wo hörte es auf? Womit hörte es auf? Was kam dahinter? Es konnte doch nicht einfach Nichts kommen, was sollte denn das Nichts sein? Was würde wohl passieren, wenn man sich dort befinden würde? Bei dem Versuch, sich die Ausdehnung des Weltalls bildlich vorzustellen, wurde ihr ganz schwindlig.

Der nächste Song riss sie aus ihren Gedanken. „A friend in needs is a friend indeed, a friend with weed is better“… – oh, wie Recht der Placebo-Sänger doch damit hatte. Unruhig stand sie auf und ging ein wenig näher an den Rand des Hochhauses. 23 Stockwerke waren doch verdammt hoch!

Wieso konnte sie sich auf ihre bescheuerten Freunde eigentlich nicht verlassen? Nie waren sie da, wenn man sie brauchte. Na ja, es war ihr ja im Prinzip egal. Sie brauchte keinen Menschen. Man ist sich selbst der Nächste. Anna, ihre beste Freundin, war zwar für sie da, sie trafen sich oft und hatten immer was zu erzählen, doch irgendwie konnte sie Anna ihre ganzen wirren Gedanken, Sorgen, Ängste, Probleme nicht anvertrauen. Niemand wusste, wie es in ihr aussah. In einem gefährlich aussehenden Akt lehnte sie sich weiter über den Rand.

Sie war verrückt. Wie oft hatte sie diesen Satz schon ausgesprochen gehört und wie wenig wussten ihre Mitmenschen doch, wie recht sie damit hatten. Ja, sie war verrückt, geisteskrank, eine Gefahr für die Menschheit. Hastig ging sie zurück zu ihrem Rucksack, um sich die nächste Zigarette anzustecken. Heute würde all diese Scheiße ein Ende nehmen. Die ganze Menschheit kotzte sie einfach nur an, mit ihrer gespielten Freundlichkeit, ihren kranken Normen und mit dem eigenen Gefängnis, dass sie sich selbst gebaut hatte, ohne zu merken, wie sie sich damit selbst die Luft abschnitt. Ohnehin hatte sie das Gefühl, dass sie oft die Einzige war, der dieser ganze grausame Alltag einfach nur stumpf vorkam, dass nur sie diejenige war, die durchschaute, was alle falsch machten.

Wenn sie die Treppen der U-Bahn hochlief, sich in einer großen Menschentraube langsam vorschiebend, taten ihr die anderen Menschen irgendwie leid. Langsam vorantrottend, mit traurigem, abgestumpften Blick folgten sie den Wegen durch ihr vorhersehbares, langweiliges Leben. Sie hatten keine wirklichen Höhepunkte oder glückliche Momente, sie mussten sich diese Ereignisse einreden. Sicherlich wird diese alte Frau dort sagen, dass ihre Hochzeit oder die Geburt ihres Kindes der schönste Tag ihres Lebens war.
„Nein“, würde sie antworten. „Welches war denn wirklich der schönste Tag in Ihrem Leben?“ Soviel brauchte der Staat gar nicht zu tun, um die Menschen gefügig zu machen und ihre Ansprüche gering zu halten. Dieser ganze Gesellschaftsaufbau machte das schon selber. Man brauchte sich doch nur einmal umzuschauen! Falls man dann ausnahmsweise jemanden in der U-Bahn-Station sah, der mit strahlendem Gesicht durch die Gegend lief, womöglich noch frisch verliebt mit dem Mann oder der Frau der Träume an der Seite, wurde dieser Jemand zumeist mit hasserfülltem Blicke betrachtet. „Ein Aufsässiger! Lasst nicht zu, dass er meine Ruhe aus dem Gleichgewicht bringt!“ Nichts mochten diese Menschen mit den hasserfüllten Blicken weniger, als von irgendjemandem bei ihrer alltäglichen Routine gestört zu werden. Doch wenn man genau hinsah, erkannte man tiefer in den Blicken dieser Menschen noch etwas anderes: Neid. Den Neid darauf, das Leben pur zu genießen, hüpfend, laut lachend, Albernheiten kreischend durch die Gegend laufend. Diese aus der Reihe Tanzenden waren eigentlich so frei, wie man immer sein wollte und es doch nicht riskieren konnte. „Oh, ihr armen dummen Menschen“, dachte sie und legte sich nach einem großen Schluck Wein wieder auf den Rücken. Der CD-Player spielte einen ihrer Lieblingssongs „Incubus – The Warmth“. Bei dem Refrain, der ihr so gefiel, liefen ihr Tränen über das Gesicht. „So don’t let the world bring you down, not everyone here is that fucked up and cold“. Sie war immer auf der Suche nach denen, die so wie sie waren. Die sich auf der Straße, wenn sie einen wirklich glücklichen Menschen sahen, ein breites Grinsen auch nicht verkneifen konnten. Wo waren all die, die sich über „belanglose Dinge“, wie man sie zu unrecht nennt, freuen konnten? Es schien ihr alles so klar zu sein, sie konnte nicht verstehen, wieso denn niemand erkannte, dass man zu einem erfüllten Leben keinen roten Sportwagen und keinen neuen Superclean-Staubsauger braucht. Gut, ganz so arrogant war sie auch nicht, zu glauben, dass nicht jeder Mensch diese Theorie im Ansatz schon mal erkannt hat. Doch warum, fragte sie sich wieder und wieder, waren dann alle zu blöde um es einfach zu kapieren? Das Leben musste man einfach genießen, Atemzug für Atemzug, die schlechten Erfahrungen machen einen zu einem weiseren und die positiven zu einem liebevolleren Menschen. Aber sie hatte gut reden… nichtmal sie selbst hatte es hinbekommen, glücklich zu sein, obwohl sie doch wusste, wie es ging…gehen müsste. Und nun saß sie hier auf diesem gottverfluchten Hochhaus und wollte diesem ganzen Mist ein für allemal ein Ende setzen. Sie setzte sich aufrecht hin und holte eine neue Flasche Wein heraus.

Doch sie wusste, warum es bei ihr nicht klappte. Es war diese verdammte Einsamkeit, die sie langsam von innen her auffraß.

Sie kannte wirklich alle Formen der Einsamkeit und hielt es einfach nicht mehr aus. Es war nicht das, was Menschen Alleinsein nennen. Sie mochte es gern, allein zu sein, ihre Ruhe und viel Zeit zum Nachdenken zu haben, einfach sie selbst sein zu können ohne sich für andere verstellen zu müssen. Alleinsein hat aber nichts mit Einsamkeit zu tun. Man konnte inmitten einer riesigen Menschenmenge stehen und sich doch unerträglich einsam fühlen, weil einen einfach keiner verstand. Und so war es doch: Niemand auf der ganzen Welt ist in der Lage, einen anderen Menschen jemals komplett zu verstehen. Die meisten finden sich allerdings damit ab, mehr oder weniger. Einige wissen gar nicht, was für ein komisches Gefühl der Leere sie da verspüren wenn sie mit ihrem ihnen mittlerweile fremd gewordenen Partner abends auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen oder mit einer Gruppe von Freunden in einer Bar, die sich über die neuesten Modetrends und irgendwelche langweiligen Frisuren unterhielten. Und diese Art der Einsamkeit, dieses Gefühl, dass ihr niemand auf den Grund der Seele schauen konnte, brachte sie langsam aber sicher um. Nun, die anderen Formen, die sie auch nur zu gut kannte, waren z.B. die Isolation eines Außenseiters in der Schule, um den sich keiner Gedanken macht, der aber immer allein in einer Ecke steht und die lachenden Freundeskreise beneidet, die sich, vertraut wie sie mittlerweile untereinander sind, über ihre kleinen Fehler lustig machen oder sich über das letzte tolle Wochenende und die angesagtesten Partys unterhalten. Oder den Wunsch nach einem Menschen, mit dem man alle Zärtlichkeiten der Welt austauschen kann und der einen so lange in den Arm nimmt, bis auch die letzten Selbstzweifel beseitigt sind. Dann gab es da noch die Abnabelung vom Elternhaus, wenn man allein auf sich gestellt ist und das Gefühl hat, mit seinen Entscheidungen und der ganzen Verantwortung der Welt auf einmal allein dazustehen. Oder das Gefühl das man hat, wenn sich einfach niemand für einen interessiert, wenn sie dich zwar fragen, wie es dir geht, aber du an ihren Augen genau ablesen kannst, dass sie absolut nichts darüber hören wollen und vermutlich nur gefragt haben um eine Chance zu bekommen von ihrem letzten tollen Erlebnis zu erzählen.

Sie winkelte die Beine an und schlug ihre Arme darum. Wieso bloß musste sie all das kennenlernen und wieso konnte sie es nicht ertragen, so wie alle anderen auch? „Weil du nicht wie alle anderen bist“, flüsterte eine der Stimmen in ihrem Kopf.

War es gut oder schlecht, anders zu sein? Man hatte es soviel leichter, wenn man sich anpasste….mal sehen, wie sah das perfekte Leben eines perfekten Menschen aus, zu das einen alle Eltern bringen wollten bis man es später selber will?

Zuerst muss man natürlich ein pflegeleichtes Baby sein, nicht weinen, viel schlafen und Dinge wie Laufen und die ersten Worte sagen superschnell erlernen. So können die Eltern sogar noch mit einem angeben und so tun als ob sie es doch letztendlich noch zu etwas Tollem gebracht haben in ihrem nichtssagenden Leben. Schnellstmöglich muss das Kleinkind dann an verschiedenen Aktivitäten teilnehmen; hier ein Spielkreis, damit es den Umgang mit anderen lernt, da noch ein,zwei Sportkurse, Musikschule – bloss kein verborgenes Talent unbeachtet lassen. Außerdem haben die Eltern ja so noch eine Art zweiter Chance um ihre unvollendeten Träume nun durch die Kinder zu leben. Armes, unwissendes Kind, willst doch nur spielen und die Welt allein entdecken, doch dir wird von Anfang an der Anzug der stressigen Leistungsgesellschaft angezwängt. Von der Schule sollten natürlich nur Einser mit nach Hause gebracht werden und ein paar ausgewählte, sehr gut erzogene Freunde sind doch alles, was man sich wünschen kann. Das eigene Kind muss gut angezogen, lieb, freundlich, zuvorkommend, immer gut gelaunt, fleißig und hübsch sein. Je älter man dann wird, desto mehr muss man sich natürlich auch in seine Geschlechterrolle anpassen. Die Jungen sollten dann nach dem Eintritt in die Pubertät schnellstmöglich einen durchtrainierten, leicht braungebrannten sportlichen Körper bekomme, sollten klug und zuvorkommend sein aber bloß nicht zu sensibel, immer eine Prise Macho hinzu. Natürlich erwartet man auch , dass ihre anfänglichen Selbstzweifel durch den Kauf von Motorrollern, Markenklamotten, besonders schnellen Computern und später Autos beheben. Stets von hübschen Mädchen sollte der perfekte Junge umgeben sein und doch nur seiner Freundin treu sein, die er natürlich über alles liebt. Nach dem bestmöglichen Schulabschluss und einem drangefügten Studium beginnt er seine Arbeit in einer tollen Firma, in der er sich nach Hochzeit und dem Einzug ins eigene Haus die Karriereleiter hocharbeitet. Später wird er dann gleichzeitig der erfolgsreiche Geschäftsmann und der sich aufopfernde Familienvater.

Sie wurde traurig bei dem Gedanken daran, dass sie genug solcher Fälle kannte. Innerlich hatten diese „perfekten“ Menschen vielleicht mal den ein oder anderen Ausfall und es fiel ihnen schwer, dem „richtigen“ Weg zu folgen, aber statt sich Gedanken darüber zu machen warum dies so sein könnte, redeten sie sich ein sie arbeiten einfach nicht hart genug an sich selbst und bräuchten mehr Disziplin.

Die Mädchen hatten ebenfalls einen fest vorgegebenen Weg bei Beginn der Pubertät: Sie mussten ihren hilfsbereiten, selbstlosen, verständnisvollen Charakter beibehalten, fleißig bis zu ihrem Schulabschluss lernen, sich regelmäßig mit ihren Freundinnen treffen um über belangslose Dinge zu reden und einen festen Freund finden, der ebenso perfekt sein sollte wie sie selbst. Nach dem Studium wurden sie dann fürsorgliche Mütter und Hausfrauen, oder – wenn sie ganz modern waren – brachten sie einfach alles unter einen Hut und machten nebenbei noch Karriere.

Falls sie dieses Bild vom perfekten Lebenslauf einmal jemandem erzählt hat, hat sie meist nur ein müdes Lächeln und ein „du spinnst ja“ zu hören bekommen, doch gab es wirklich eine Person in der deutschen Gesellschaft, die nach einem anderen Leben für sich und ihre Kinder strebt?

Gut, so sah also das Leben aus, wie es fast alle haben wollten, wenn man sich jetzt mal nur auf die äußeren Faktoren beschränkte. Sie zündete sich eine Zigarette an und betrachtete den Sternenhimmel, während aus den Lautsprechern „Angel“ von Massive Attack ertönte. Die Sterne waren alle unterschiedlich, es gab kleinere und größere, hellere und dunklere und doch waren sie alle wunderschön, sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit gesehen. Sie stellte sich den Himmel vor, wenn ein Mensch die Gelegenheit gehabt hätte, ihn zu bestimmten. Alle Sterne wären gleich groß, gleich hell und in gleichem Abstand zueinander angeordnet. „Warum ist mein kranker Kopf bloß so verbittert?“, fragte sie sich. „Nicht alle würden es so machen!“

Warum wollen alle, dass ihre Kinder so perfekt sind und warum wollen die Kinder das dann selbst? Das war eine zentrale Frage, die ihr früher oft durch den Kopf geschwirrt ist. Sie hatte bisher zwei Antworten darauf. Der wichtigste Aspekt war wohl das Ego, die Anerkennung. Die Menschen konnten es nicht akzeptieren, dass sie für die Welt ein Niemand waren und nur geringen Einfluß auf das Geschehen hatten. Die Menschen wollten bewundert und bestaunt werden, wollten, dass andere ihnen ständig auf die Schultern klopfen und ihnen sagen, wie toll sie doch seien und dass sie es zu was gebracht hätten und ihr Leben nicht vergeudet gewesen sei. In dem Moment fiel ihr ein, dass sie dem letzten Aspekt wohl bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Da alles so ungewiss ist und es einfach keinen Plan für das „richtige“ Leben gibt, kein Universal-Rezept, kein Buch, das einem sagt, was man tun muss, um ein erfülltes Leben gelebt zu haben, waren die meisten Menschen sehr unsicher.

Unsicher und ängstlich und verzweifelt auf der Suche nach Hilfe. Sie wollten immer etwas haben, das sie lenkt und führt und ihnen den richtigen Weg weist. Warum sonst gäbe es wohl diesen ganzen Götterquatsch, tausende von Büchern über Lebensberatung und überfüllte Wartezimmer bei den Psychologen. Wenn ein Mensch nun also die Bestätigung erhalten hat, dass er was Gutes getan hat, ist er für einen kleinen Moment innerlich zufrieden. Solange, bis die Unsicherheit von alleine wiederkommt und alles wieder von vorne losgeht.

Der andere Grund für den Wunsch nach einem perfekten Leben war der Wunsch nach Vermeidung von jeglichen Problemen. Ein Mensch mit Problemen bedeutete im großen und ganzen Streß; für die Eltern Aufwand von Zeit und Geld, für die Freunde Aufwand von Nerven und Verlust von Image, für den Rest der Familie war man das schwarze Schaf, in der Klasse derjenige, auf dem alle rumhackten, im Berufsleben der Arbeitslose – und es gab genug Probleme, um alle Bereiche abzudecken.

Man denke nur an diejenigen, die sehr schlecht in der Schule sind, sei es aus mangelnder Intelligenz, fehlender Aufmerksamkeit oder weil er oder sie sich nicht anpassen kann.

Menschen, die nicht in das Gesellschaftsbild passten und die Aufmerksamkeit im negativen Sinne auf sich ziehen, wie z.B. Homosexuelle, Alkoholiker, Angehörige radikaler Gruppierungen, Leute, die schon in der Psychiatrie waren. Diese Beispiele waren jetzt vielleicht schon etwas zu übertrieben, dachte sie. Aber je mehr man vom Standardweg abwich, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, später auch zu denen zu gehören, auf die die Gesellschaft mit Verachtung herabblickte.

Sie gehörte dazu, war Mitglied des verabscheuungswürdigen Teils der Menschheit. Naja, vielleicht war sie es objektiv gesehen nicht, aber sie fühlte sich so und das war schon genug. Sie hielt das nicht mehr aus.

Mit siebzehn, als sie sich selbst noch nicht aufgegeben hatte, war sie unsterblich in einen Jungen ihrer Schule verliebt. Sie hatte Glück und lernte ihn über ihren damals besten Freund kennen. Eines abends auf einer Party nahm sie allen Mut zusammen und gestand ihm, was sie für ihn empfand. Doch er liess sie abblitzen mit der Begründung, sie sei zwar hübsch und sympatisch, aber nicht sein Typ. Sie hasste es, wenn Menschen eine negative Botschaft mit einem Kompliment verknüpften, so als wäre ihr Gegenüber blöd genug, sich davon blenden zu lassen. Am gleichen Abend musste sie erfahren, dass ihr bester Freund mit seinen Kumpels gewettet hat, sie heute ins Bett zu bekommen. Glücklicherweise hat sie das erfahren, bevor irgendetwas passiert ist.

Seit dem Abend hat sie nie wieder Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen können und sie hat ihre wahren Gefühle für sich behalten.

Sie stand auf und trank den Wein leer, zündete sich noch eine Zigarette an. Sie hatte keinen Abschiedsbrief geschrieben, sie wusste nicht, wem sie noch etwas mitteilen sollte aber jetzt überlegte sie sich, ob sie nicht all die Gedanken, die ihr in dieser Nacht durch den Kopf gegangen sind, aufschreiben sollte.

Sie entschied sich schließlich dagegen. Wem sollte das was nützen und außerdem wollte sie ihre letzten Stunden nicht damit verbringen, Botschaften an Leute zu schreiben, die sie eh nicht verstehen würden, sondern lieber die Zeit für sich selbst haben.

Nun, ihr Entschluß zu sterben war endgültig und sie fühlte sich sehr ruhig und sorgenfrei. Ein bisschen bedenklich war das für sie schon, denn vorher hatte sie sich immer nach genau diesem Zustand gesehnt. Sie wollte ohne Sorgen und Ängste, ohne Bedenken, etwas verlieren zu können leben. Ohne an das Morgen zu denken, friedlich und ruhig einfach eben. Genau dies hatte sie jetzt und immer vorher, wenn sie an Selbstmord dachte.

Allerdings hielt sie das diesmal nicht davon ab, sich auch wirklich umzubringen, wie so viele Male davor, denn sie wusste, wenn sie wieder in ihr „normales“ Leben zurückkehren würde, hätte sich nichts geändert.

Es gab für sie einfach keine Freude mehr, keine Hoffnungen und Träume und Ziele. Sie wusste, dass man im Moment leben musste, um glücklich zu sein aber das wollte und konnte sie nicht. Sie fühlte sich kraftlos und allein und hatte das Gefühl, genug vom Leben gelernt zu haben, mehr als viele andere, die alt und zahnlos in ihrem Bett einschliefen und nie wieder aufwachten.

Sorgfältig packte sie all ihre Dinge wieder in den Rucksack, erst die Decke, dann die Flaschen, dann den CD-Player und das Feuerzeug. Langsam ging sie zum Rande des Hochhauses. Es war Sonntag Nacht und sie befand sich in einem Industriegebiet, es würde also frühestens in ein paar Stunden der erste Mensch vorbeikommen. Sie nahm den Rucksack und warf ihn hinunter. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er auf der Straße aufschlug. Es breitete sich eine rote Pfütze aus – der Rotwein aus der dritten Flasche, die sie nicht getrunken hatte.

Ein letztes Mal blickte sie hinauf zum Sternenhimmel, wobei ihr jetzt, so nah am Abgrund schwindelig wurde. Jetzt gab es kein zurück mehr. Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Sie dankte der Welt in Gedanken noch einmal halb ironisch, halb ernst für alles, was sie erleben musste. Und dann sprang sie nach vorn, so weit sie konnte.

Es kribbelte beim Fall ganz stark im Bauch und sie konnte nicht mehr denken oder atmen und dann war da nichts mehr.